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CHARLOTTE PERRIAND

Mutter der modernen Einbauküche und Interior-Revolutionärin, die schon früh ihren Mann stand – und dabei den „weiblichen“ Blick auf die Welt nie aus den Augen verlor

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„Mademoiselle, wir besticken hier keine Kissen.“ Diesen herablassenden Satz, mit dem sie 1927 von Le Corbusier abgewiesen wurde, zitierte Charlotte Perriand gern. Die Tochter eines Herrenschneiders und einer Haute-Couture-Näherin war damals 24, hatte bereits seit zwei Jahren ihren Abschluss an der Pariser Kunstgewerbeschule der Union Centrale des Arts Décoratifs in der Tasche und sprach nach der Lektüre seiner Schriften bei Le Corbusier um eine Anstellung vor. Vom traditionellen Kunstgewerbe hat sie sich zu diesem Zeitpunkt längst abgewandt und kann bereits auf eigene Möbelentwürfe sowie erste Ausstellungsbeteiligungen verweisen. Sie fasst sich dennoch ein Herz und lädt den Meister zum Salon d’Automne ein, wo sie mit ihrer berühmten „Bar sous le toit“ vertreten ist – eine der ersten offenen Küchen mit Einbautresen und Barhockern, niedrigen Tischen und Hockern sowie einer Sitzbank. Le Corbusier kommt tatsächlich, und als er das hochmodern anmutende Ensemble aus vernickeltem Kupfer, eloxiertem Aluminium und Glas erblickt, erkennt er die verwandte Seele, die mit kühlen, spiegelnden Materialien sowie kraftvollen, geometrisch klaren Formen dem Zeitalter der industriellen Revolution und dem Siegeszug der Maschinen huldigt. 

Brückenschlag zwischen Mensch und Maschine

Es ist der Beginn einer fruchtbaren zehnjährigen Zusammenarbeit, da Le Corbusier Charlotte Perriand spontan mit der Leitung des Bereichs Möbel und Innenausstattung in seinem Atelier betraut. Eine kluge Entscheidung, denn wenngleich sie als eine der ersten Frauen im Architekturbereich Materialien wie Aluminium und Stahl für sich entdeckte, fügte sie dem strengen Rationalismus von Le Corbusier doch eine wohltuende Spur Menschlichkeit hinzu. Wie groß ihr Anteil an etlichen in dieser Zeit entstandenen Designklassikern war, wurde allerdings erst später offenbar, und die italienische Möbelfirma Cassina trägt dieser Tatsache heute bei ihren Neuauflagen Rechnung, indem sie Le Corbusier, seinen Cousin und langjährigen Kompagnon Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand als gleichberechtigte Schöpfer nennt. Zum Beispiel für die Chaiselongue „LC4“, den Sling-Sessel „LC1“ und die Sessel „LC2“ und „LC3“. 

1937 führen politische Differenzen zum vorübergehenden Bruch, und es folgt eine erste intensive Phase der Zusammenarbeit mit Jean Prouvé, für den sie Militärbaracken samt Mobiliar entwirft. 1940 folgt sie einer Einladung nach Japan – zwei prägende Jahre, in denen sie nicht nur den Kollegen dort ihren avantgardistischen Ansatz näherbringt, sondern selbst zahlreiche Anregungen erhält und Holz, Stroh und Bambus als kostengünstige Alternative entdeckt, um ihre ebenso ästhetisch hochwertigen wie bequemen Möbel für eine breite Masse bezahlbar zu machen. Überhaupt gewinnen soziale Anliegen an Bedeutung. In der Nähe von Paris richtet sie mit Jean Prouvé 2000 Studentenappartements ein, auch konzipieren die beiden Fertighäuser aus Aluminium. Für Le Corbusiers legendäre „Wohnmaschine“ in Marseille entwirft sie Küchenprototypen, für Air France die Einrichtung des Londoner Büros. Und ihr letztes großes Projekt ist schließlich die Mitgestaltung des autofreien Skiressorts Les Arcs in Savoyen – der geliebten Landschaft ihrer Jugendtage.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Charlotte Perriand bis zu ihrem Tod im Jahre 1999 offen blieb für Veränderungen und den kreativen Austausch mit anderen. Sehr anschaulich nachzulesen in ihrer ein Jahr vor ihrem Tod erschienenen Autobiografie „Und Vie de Création“.

 


 

Hätte Charlotte Perriand dasselbe Wirkungsfeld wie ihre Eltern gewählt, was hätte sie dann wohl für Kleider erschaffen? Erschwingliche Stücke für alle aus Bambusfasern? Oder vielleicht doch eher Vorläufer der radikal avantgardistischen Haute-Couture-Kreationen einer Iris van Herpen? Zumindest hätte sie sicher spannend gefunden, wie die holländische Designerin mit immer neuen Materialien und Technologien wie speziell bearbeiteten Ledern, Metallseide oder Polyamidpulver experimentiert. Oder mit Silikon, das aussieht wie wellenbewegtes Wasser. Zukunftsweisende Entwürfe wie ihre eigenen Möbel kurzum, in denen moderne Technologie und Kunst zu etwas Neuem, nie Dagewesenem verschmelzen.